Es gibt im Fußball nichts, was es nichts gibt… (Text/Copyright: Marco Haase/az-online.de)
Sinsheim. Nach dem „Phantom-Tor“ des Leverkusener Stürmers Stefan Kießling in der 70. Minute gegen die TSG 1899 Hoffenheim gehen wir im aktuellen „Pfiff der Woche“ drei Fragen nach: 1. Hätte es für Schiedsrichter Dr. Felix Brych (München) Anhaltspunkte und regeltechnische Möglichkeiten gegeben, den „Treffer“ nicht anzuerkennen? 2. Wer ist zuvorderst für den Platzbau verantwortlich? 3. Lässt das Fußball-Regelwerk ein Wiederholungsspiel zu?
Aus der Regel 10 – Wie ein Tor erzielt wirdErzielen eines ToresEin Tor ist gültig erzielt, wenn der Ball die Torlinie zwischen den Torpfosten und unterhalb der Querlatte vollständig überquert, sofern das Team, das den Treffer erzielt hat, zuvor nicht gegen die Spielregeln verstoßen hat.Bestehen Zweifel, ob der Ball vollständig im Tor war, soll der Schiedsrichter das Spiel weiterlaufen lassen. (Zusätzliche Erläuterungen des DFB) Aus der Regel 1 – Das Spielfeld:„Netze können an den Toren und am Boden hinter den Toren befestigt werden, sofern sieausreichend gesichert sind und den Torwart nicht behindern.“
Zum ersten Thema, der Anerkennung des irregulären Treffers. Für den 38-jährigen FIFA-Referee Felix Brych, seit neun Jahren Bundesliga-Unparteiischer und – weiterhin – heißer Kandidat für die WM 2014 in Brasilien, gibt es in dieser 70. Minute von Sinsheim kaum Indizien dafür, dass etwas nicht stimmt. Zwar verhält sich der Torschütze etwas seltsam, indem er auf das Tor köpft und danach die Hände über den Kopf zusammenschlägt, als sei die Kugel nicht im Netz. Dennoch zappelt das Leder dann doch im Tor, die Leverkusener jubeln, wenn auch verhalten – und, ein entscheidender Punkt für den Schiedsrichter: Das gesamte Verhalten der Mannschaft, gegen die gerade der „Treffer“ erzielt wurde, spricht ebenfalls dafür, dass ein reguläres Tor gefallen ist.
Kein Hoffenheimer protestiert, das Team nimmt den Gegentreffer hin – übrigens auch Trainer Markus Gisdol, wie man im Spiel sehr gut erkennt: Der Coach nimmt das 0:2 zur Kenntnis und kümmert sich sofort um eine anstehende Auswechselung. Nachdem Gisdol, wie viele andere auch, nach Spielschluss etliche Zeitlupen der Situation sieht, hören sich seine Interviews allerdings etwas anders an.
Der Ball ist im Netz, Leverkusen jubelt, Hoffenheim nimmt den Treffer hin. Auch wenn Brych „kleine Zweifel“ hat, wie er nach dem Spiel zugibt – auf dem Platz gibt es kaum Anhaltspunkte für ein irreguläres Tor. Der Assistent hinten an der Torlinie kann bei normaler Geschwindigkeit nicht erkennen, ob das Leder vor oder hinter dem Pfosten ins Netz geht. Und auch bei der Live-Übertragung braucht der Sender „Sky“ etliche Minuten und Einstellungen, um endlich den optimalen Blick der Hintertorkamera zu finden. So ist die einmalige Situation, dass ein Ball haarscharf neben dem Pfosten durch ein Loch ins Netz geht, für Akteure, Schiedsrichter und alle übrigen Beteiligten im normalen Spiel kaum zu erkennen. Regeltechnisch wäre es bis zur Ausführung des Anstoßes für den Schiedsrichter möglich gewesen, das Tor nicht zu geben und auf Abstoß zu entscheiden, wie es korrekt gewesen wäre. Aber bei den (wenigen bis gar nicht vorhandenen) Anhaltspunkten? Schwer… Als sich Brych nach Hinweisen der Hoffenheimer Auswechselspieler (nachdem diese die Fernsehbilder gesehen haben) das kaputte Netz anschaut, ist es zu spät: Das Spiel ist bereits fortgesetzt worden, der Treffer zählt: Tatsachentscheidung.
Ohne dem Leverkusener Top-Stürmer einen Vorwurf zu machen, hätte es vielleicht eine Möglichkeit gegeben, das „Phantom-Tor“ zu verhindern. Stefan Kießling köpft den Ball aufs Tor und ist sich sicher, nicht getroffen zu haben. Sein ganzes Verhalten nach dem „Treffer“ spricht dafür. Dann rollt das Leder trotzdem im Netz, und Kießling ist überrascht, wie er nach dem Spiel zugibt. Kurz vor dem Anstoß spricht er kurz mit Schiedsrichter Felix Brych. Wenn Kießling hier sehr deutlich gesagt hätte: „Ich dachte, der Ball wäre nicht im Tor gewesen – und ich wundere mich, wie er da rein gekommen ist“ – vielleicht wäre der FIFA-Referee dann vor dem Anstoß zum Tor gegangen und hätte sich das Netzt angeschaut. Aufgrund der ganzen Situation auf dem Platz ist das allerdings sehr theoretisch.
Zweites Thema, Platzbau. Hier heißt es eindeutig im Regelwerk, dass der Platzverein für den ordnungsgemäßen Aufbau der Tore verantwortlich ist. Hoffenheims Platzwart Klaus-Peter Sauer und sein Team werden die Netze künftig sicherlich mehr als ausgiebig prüfen. Übrigens, kleiner Regelschlenker: Was wäre denn, wenn Platzwart Sauer gar keine Netze angebracht hätte? Wäre dann ein Spiel möglich gewesen? Ja, denn Tornetze sind nicht Vorschrift, sondern können laut Regelwerk angebracht werden. Die Praxis in allen Klassen zeigt allerdings, dass es ohne Netze mehr Stress gibt als mit…
Aber auch der Schiedsrichter ist laut Regel Nummer 1 (Das Spielfeld) gehalten, vor Spielbeginnen zu prüfen, ob alles in Ordnung ist. Er kann das auf die Assistenten delegieren, verantwortlich für die Prüfung bleibt er. Im Profibereich ist es übrigens üblich, auch vor Anpfiff der zweiten Halbzeit noch mal nachzuschauen. Das tut der 35-jährige FIFA-Assistent Stefan Lupp aus Zossen in Brandenburg auch pflichtbewusst – leider entgeht ihm das zerstörte Netz. Manchmal kommt eben alles zusammen.
Aus der Regel 1 – Das Spielfeld: Der Platzverein ist für die richtige Zeichnung des Spielfeldes sowie den ordnungsgemäßen Aufbau der Tore, ihre zuverlässige Befestigung und ihren unbeschädigten Zustand verantwortlich. Der Schiedsrichter prüft einige Zeit vor Spielbeginn das Spielfeld und den Platzaufbau, um sich davon zu überzeugen, dass alles in Ordnung ist. Aus der Regel 5 – Der Schiedsrichter: Entscheidungen des Schiedsrichters Die Entscheidungen des Schiedsrichters zu spielrelevanten Tatsachen sind endgültig. Dazu gehören auch das Ergebnis des Spiels sowie die Entscheidung auf „Tor“ oder „kein Tor“. Zur dritten und entscheidenden Frage: Lässt das Fußball-Regelwerk ein Wiederholungsspiel zu? Die Antwort ist – eigentlich – eindeutig: Nach einer Situation wie in der 70. Minute von Sinsheim nicht. Wiederholungen sind bei Regelverstößen des Schiedsrichters möglich, nicht bei Wahrnehmungsfehlern. Wo ist der Unterschied? Ein Regelverstoß wäre es, wenn ein Unparteiischer einem Spieler zweimal die gelbe Karte zeigt und ihn auf dem Platz lässt. Oder nach einem Foul keinen direkten Freistoß oder Strafstoß gibt, sondern etwa Schiedsrichter-Ball.
Fehler des Unparteiischen, und seien sie noch so ärgerlich, gelten als Tatsachenentscheidung. Wenn der Referee also einen Strafstoß gibt oder auch nicht, und 39 Kameras zeigen nach dem Spiel etwas anderes, dann ist die Messe dennoch gelesen, so will es die Fußball-Regel Nummer 5. Das ist im Übrigen auch gut so, denn ansonsten würden schon Kreisliga-Vereine mit Kameras und Anwälten am Spielfeldrand stehen und jede noch so kleine Entscheidung vor den Sportgerichten monieren und mit vermeintlich eindeutigen Bildern belegen wollen. Und in der Bundesliga wären wir vermutlich noch bei der juristischen Abarbeitung der Saison 1963/64.
Die Fußball-Regeln gelten weltweit, auch in Deutschland. Das weiß der DFB, auch wenn er – aufgrund des unpopulären Themas – sofort an die FIFA weiterverwiesen hat. Klar, denn diesen Schuh, den Einspruch Hoffenheims abweisen zu müssen, wo doch ganz Fußball-Deutschland über „Gerechtigkeit“ spricht, will sich der DFB nicht anziehen. So spricht auch Vize-Präsident Dr. Rainer Koch von „gerecht“ und „ungerecht“ – und schiebt den „Schwarzen Peter“ an die FIFA weiter.
Fakt bleibt: In Hoffenheim ist kein Regelverstoß passiert, sondern ein Wahrnehmungsfehler aller Beteiligten, leider auch des entscheidenden Mannes – des Schiedsrichters. Dr. Felix Brych hat den Ball im Tor gesehen und das Spiel fortsetzen lassen, also müsste das Tor gelten.
Aber… wenn man am Wochenende genau hingehört hat, könnte es eine Möglichkeit geben, ein Wiederholungsspiel zu rechtfertigen und die Regel 5, sagen wir, ein wenig zu dehnen, ohne die Tatsachenentscheidung von Grund auf anzukratzen. Der Unparteiische selbst hat nämlich die Tür für diese Chance aufgestoßen.
Brych sagte nämlich im Interview kurz nach Spielschluss, dass er „kleine Zweifel“ gehabt hätte. Nun gibt es in der Regel 10 (Wie ein Tor erzielt wird) die zusätzliche Erläuterung des DFB, dass der Unparteiische das Spiel weiterlaufen lassen soll, wenn er sich nicht hundertprozentig sicher ist, dass die Kugel die Torlinie zwischen den Pfosten mit vollem Durchmesser überschritten hat. Im Zweifel also kein Tor. Wenn man den Sinn, der hinter dieser Norm steht, auf die aktuelle Szene von Sinsheim überträgt, könnte das ein Ansatz sein: Der Unparteiische hat, trotz „kleiner Zweifel“, Tor gegeben. Schaun mer mal…
Warum aus Phantomen Tatsachen werden
Dass die FIFA die in der Regel 5 wie in Stein gemeißelte Tatsachenentscheidung des Schiedsrichters so hoch hält wie kaum eine andere Norm des Regelwerks, muss der DFB auch nach dem bisher berühmtesten Phantom-Tor der deutschen Fußballgeschichte am 23. April 1994 erfahren:
23. April 1994: Bayerns Thomas Helmer stochert im Derby gegen die Clubberer aus Nürnberg nach einer undurchsichtigen Situation im Torraum den Ball am Pfosten vorbei. An diesem 32. Spieltag der Fußball-Bundesliga stochert Bayerns Thomas Helmer im Derby gegen die Clubberer aus Nürnberg nach einer undurchsichtigen Situation im Torraum den Ball am Pfosten vorbei. Für das erfahrene Bremer Schiedsrichter-Team um Referee Hans-Joachim Osmers und Assistent Jörg Jablonski keine einfache Szene: Die Kugel tanzt im Torraum vor der Torlinie – Osmers kann aus seinem Blickwinkel nicht erkennen, ob das Leder vielleicht nicht jetzt schon die Torlinie zwischen den Pfosten überschritten hat. Daher sucht der Blickkontakt zu seinem Kollegen an der Linie.
Jörg Jablonski wiederum erkennt, dass der Ball zwar zuvor nicht im Tor war – hat dann allerdings die fatale falsche Wahrnehmung und ist sich todsicher: Helmer befördert die Kugel über die Torlinie, und zwar zwischen den Pfosten (und nicht, wie es war, daneben). Der Rest ist bekannt: Jablonski hebt die Fahne, Osmers gibt das Tor – und hat danach seinen ersten Auftritt in den tagesthemen bei Sabine Christiansen. Bayern gewinnt die Phantom-Tor-Begegnung mit 2:1.
Der DFB setzt ein Wiederholungsspiel an, das die FIFA schwer missbilligt. Der Weltfußball-Verband weiß, dass die Attraktivität des Fußballsports aufgrund von schnellen Spielzügen und Toren lebt – und vor allem auch dadurch, dass nach 90 Minuten alles gegessen und entschieden ist.
Ein Sport, der im Nachhinein regelmäßig am Grünen Tisch entschieden werden muss, ist tot und ohne jede Attraktivität für die Zuschauer (und Werbepartner). Dafür, für die Attraktivität der schönsten Nebensache der Welt, nimmt die FIFA Wahrnehmungsfehler der Unparteiischen genauso in Kauf wie die vielen, vielen Fehler der Spieler in jeder Partie. Denn der Weltfußball-Verband kennt Quoten und Wahrscheinlichkeit: Die Fehlerquote der Referees ist erheblich geringer als die jedes einzelnen Spielers einer Mannschaft.
Und die Wahrscheinlichkeit, dass jede Woche solche Szenen wie am Wochenende in Sinsheim geschehen – oder an jenem 23. April 1994 im Münchener Olympiastadion oder am 30. Juli 1966 in Londoner Wembley-Stadion im Finale zwischen Deutschland und England (wo bis heute übrigens noch nicht völlig klar ist, ob es nicht doch ein Tor war…), diese Wahrscheinlichkeit ist zum Glück sehr, sehr gering.