Zwei mutige Männer auf dem Kiez
Uelzen/Hamburg – von Marco Haase. Die Szene des Spieltags in der Englischen Woche passiert nicht im Fußball-Oberhaus, sondern in der Zweiten Liga beim knappen Heimsieg der St. Paulianer gegen Union Berlin (2:1) – im Stadion live dabei auch wieder viele AZ-Sport-Leser.
In der 81. Minute köpft Kiez-Stürmer Marius Ebbers den Ball zum vermeintlichen 2:1 ins Berliner Tor. Bundesliga-Schiedsrichter Tobias Welz von der SpVgg Nassau Wiesbaden will den Treffer zunächst geben. Aber es ging vor dem Tor nicht alles mit rechten Dingen zu, wie auch der eine oder andere Berliner Verteidiger im Gegensatz zum Unparteiischen-Team gesehen hat. Ebbers hatte den Ball nicht mit dem Kopf, sondern vor allem mit der Hand in die Maschen gedrückt, und das war kein unabsichtliches Handspiel. Die Spieler von „Eisern Union“ sind erbost, und das zeigen sie auch – gegenüber dem „Schlitzohr“ Ebbers, gegenüber dem Schiedsrichter-Assistenten und gegenüber Schiedsrichter Tobias Welz: „Das war doch Hand!“
Daraufhin tut Tobias Welz, der seit 2004 in der zweiten und seit 2010 in der Ersten Liga als Schiedsrichter im Einsatz ist, genau das, was man in Ausnahmefällen vor wichtigen Entscheidungen durchaus machen kann und sollte: Der Polizeibeamte fragt Ebbers, ob die Behauptung aus dem Lager des Kultclubs aus Berlin-Köpenick stimmt. Der 34-jährige DFB-Referee verhält sich damit in dieser Situation, in der Rudelbildungen und Unsportlichkeiten drohen, taktisch sehr klug und beweist Mut. Den hat auch Ebbers: Er gibt sein Vergehen, natürlich auch unter dem öffentlichen Druck, zu – eine Szene, die man trotzdem gar nicht oft genug zeigen kann. Auf einmal steht am Millerntor zumindest für einige Augenblicke all das im Mittelpunkt, was im Fußballsport immer wieder gefordert wird: sportliche Fairness. Die Aufstiegschancen des FC St. Pauli, der damit verbundene finanzielle Druck, das ansonsten im Profifußball oft vorherrschende Motto „Der Zweck heiligt die Mittel“ – alles ist für einen Moment vergessen.
Soweit, so gut – aber auch regeltechnisch ist die Szene hochinteressant. Kann der Schiedsrichter einfach „das Tor zurücknehmen“? Er kann, denn das Spiel auf St. Pauli ist noch nicht fortgesetzt worden; das heißt, es gab noch keinen Anstoß nach dem Tor. Und solange die Partie noch ruht, kann der Unparteiische eine Entscheidung revidieren. Pech wäre es allerdings gewesen, wenn es schon Anstoß gegeben hätte oder die Begegnung schon zu Ende gewesen wäre. Dann hätte Ebbers alles zugeben können – es wäre zu spät gewesen.
Nächste Frage: Absichtliches Handspiel? Dadurch auch noch ein Tor erzielt? Ist das nicht eigentlich unsportlich? Also gelb? Ja klar, eigentlich ja. Aber wenn der Spieler schon so fair ist, auf Nachfrage zuzugeben, dass sein Tor nicht so ganz korrekt erzielt wurde, dann lässt man als Schiedsrichter ausnahmsweise den Karton stecken. Dass man als Unparteiischer die Spieler fragt, sollte übrigens die Ausnahme und nur auf ganz wenige, spielentscheidende Situationen beschränkt bleiben – zum Beispiel bei Torerzielungen. Wenn man als Referee nach jedem Pressschlag fragt, in welche Richtung der Einwurf wohl gehen muss, ist die Autorität schnell am Ende.
Und auch bei sonstigen Foulspielen sollte der Schiedsrichter grundsätzlich seiner eigenen Wahrnehmung oder der seiner Assistenten vertrauen – hier ist in der Praxis oft auch den beteiligten Spielern nicht klar, wer wo wann das erste Foul begangen hat. Die Verantwortung für die Spielleitung hat im Fußballsport der Unparteiische, so wollen es die Fußballregeln. Und diese Verantwortung kann und sollte der Referee grundsätzlich nicht an die Akteure abtreten – Ausnahmen bestätigen die Regel, zum Beispiel im Fußball-Freudenhaus auf St. Pauli.
Marco Haase vom SV Holdenstedt ist Schiedsrichter-Referent beim Niedersächsischen Fußball-Verband (NFV). Nach jedem Spieltag in der Fußball-Bundesliga beleuchtet der 41-jährige ehemalige Spitzen-Schiedsrichter exklusiv in der AZ und schonungslos den „Pfiff der Woche“. Haase erklärt, ob sich Fußball-Deutschland zu Recht oder Unrecht über die Schiedsrichterentscheidung aufregt.